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  • AutorenbildNatalie Lehnert

Warum Familienfeste für uns schwierig sind…

Heute hatte meine Tochter (atypischer Autismus und ADHS) ihre Erstkommunion. Wir haben uns Wochen lang auf diesen einen Tag konzentriert, wie das nun mal so ist. Wenn wir eine Familienfeier haben, muss ich mir einen engen Plan entwerfen und es ist sehr wichtig für mich, dass er genau umgesetzt wird. Meistens klappt das nur zu einem relativ kleinen Teil.

Doch ganz am Anfang war meine Planung extrem schwierig. Das liegt daran, dass ich mich schwer damit tue, Prioritäten korrekt zuzuordnen und sinnvolle Reihenfolgen zu erkennen. Es ist in etwa so, als würde ich vor einem riesigen Berg an Dingen stehen, die sortiert werden müssen. Damit man dem Chaos sinnvoll begegnen kann, überlegt man vorweg sinnvollerweise, womit man startet. Ist die Menge an zu sortierenden Dingen zu groß, wird der Kopf überflutet mit Gedanken. Das führt dazu, dass man wesentlich länger braucht, um eine sinnvolle Reihenfolge bestimmen zu können. Die meisten Leute fangen dann spontan trotzdem einfach an. Jedoch gehöre ich zu den Menschen, die dann mehr Chaos stiften, als sie beseitigen. Dabei steigt nicht nur der Frustlevel an, sondern es kostet auch unnötig Energie und die reicht meistens eh nicht für den ganzen Tag. Also habe ich eigentlich keine davon zu verschenken.


Schon Tage vorher ist mein Stress-Pegel täglich weiter angestiegen, wie ein Fluss, der immer mehr Regenwasser sammelt und über das Ufer steigt.


Am Tag der Kommunion sind wir um 08:00 aufgestanden, haben uns fertig gemacht und ich habe die Badezimmer-Armaturen geputzt. Um kurz nach 09:00 Uhr stand der Taufpate unserer Tochter vor der Tür. Ausgemacht war, dass er erst nach halb 10 kommen sollte, was meinen Plan wieder durcheinander brachte. Angezogen war ich auch noch nicht, weil die Zeit immer länger braucht, als ich mir das vorstellen kann. Mein Zeitgefühl ist eher schlecht ausgebildet und ich behelfe mir mit Ritualen und Notizen, um nicht ständig zu viel Zeit zu brauchen.


Also war ich immer noch im Schlafanzug, half meiner Tochter beim Anziehen der Strumpfhose und der Riemchen-Schuhe und kümmerte mich um ihre Frisur. Danach war es eigentlich schon zu spät, aber ich musste noch duschen – irgendwie. Eine Alternative gab es definitiv nicht. Also brachte ich es hinter mich, zog mich an, putzte meine Zähne und dann machten wir uns auf den Weg. Wir schafften es gerade noch pünktlich (zu der Treffzeit VOR der Messe).

Meine Tochter war sehr aufgeregt und schaffte es, perfekt zu maskieren.


Ich wollte mich nur noch auf meinen zugewiesenen Platz setzen, aber da waren so unglaublich viele Leute und dann wurde ich zwischendurch begrüßt und plötzlich stellte ich fest: mein Vater und meine Schwestern fehlten. Ihre Plätze waren nach wie vor leer. Die Messe begann. Der Druck in mir stieg. In meinem Kopf entstand Chaos und so unglaublich viel Druck, dass ich schreien wollte. Mein Mann kam zu mir und die Kommunionskinder traten vor den Altar. Mein Vater und meine Schwestern fehlten immer noch. Und in mir begann sich alles zu drehen. In meinem Kopf zerfetzte sich der mühsam zurechtgelegte Plan. Dann tauchten sie auf, nahmen den Weg über die vorderen Reihen (statt über die hinteren) und gleichzeitig setzten sich die ersten Kommunionskinder auf ihre Plätze. Alles in mir fühlte sich schwindelig an. Meine Tochter kam schließlich zu mir, ließ sich neben mir auf die Bank nieder und ich kämpfte dagegen an, zu heulen (und nicht mehr aufhören zu können). Nicht vor Stolz oder Freude, sondern weil alles in mir darum kämpfte, die Funktionsfähigkeit erhalten zu können. Ich kämpfte den Impuls nieder, aus der Kirche zu rennen, damit der Meltdown nicht vor versammelter Mannschaft aus mir herausbrach. Um den Meltdown zu verhindern, krallte ich meine Fingernägel tief in meine andere Hand, wieder und immer wieder. Kämpfte, schluckte, hoffte auf ein Wunder, damit ich die Situation überstand. In meinem Kopf tauchte das Drehbuch für die Kirche auf. Jeder Schritt war sorgfältig überlegt, jede Panne wurde von mir aufgefangen und ich leitete meine Tochter durch ihre Unsicherheit. Vorbei an einem brüllenden Beinahe-Meltdown, ein Lächeln auf meinen Lippen, während ich darum kämpfte, funktionstüchtig zu bleiben.


Mein Drehbuch trug uns beide durch diese unglaublich kräftezehrende Messe, die sie zwar wollte, die aber für sie auch sehr schwierig zu bewältigen war. In den Wochen zuvor hatte mein Mann mehrfach mit ihr alles durchgesprochen, aber der Gedanke an das Schlucken der

Hostie war schwierig für sie. Sie sollte sich etwas in den Mund stecken, was von seiner Beschaffenheit neu für sie war (und das fällt ihr unglaublich schwer). Dies war der schwierigste Punkt von allen und es blieb die Frage, ob sie das schaffte. Schließlich wurden die Hostien verteilt und sie steckte sie sich in den Mund, hielt sie darin, ohne zu kauen, zu schlucken oder sonst etwas zu tun. Sie ertrug es einfach. Selbst als sie wieder zu ihrem Platz kam, hatte sie die Hostie immer noch im Mund. Und dann geschah etwas, womit wir nicht mehr gerechnet haben, denn sie kaute und schluckte sie. Das hat sie viel Überwindung gekostet, aber sie wollte es.


Nach der Messe wurden Fotos gemacht und wir fuhren ins gebuchte Lokal. Dort durften wir das Nebenzimmer nutzen. Anfangs war es so laut, dass ich mir die Ohren zuhalten wollte. Von allen Seiten kamen Gelächter und Stimmen, Geräusche und Bewegungen. In mir drinnen taumelte alles und meine Mimik lag nicht mehr länger in meiner Macht. Jedes Lächeln, jeder mitleidige Blick und jede andere gezeigte Emotion findet nur dann in meinem Gesicht statt, wenn ich es beschließe. Denn bei mir klappt das nicht automatisch. Heißt, dass ich meine Energie auch DA HINEIN stecken muss.


Von allen Seiten gab es Unterhaltungen und ich habe versucht, mich auf die Leute zu konzentrieren, die ich zweifellos mag. Neben der Familie waren auch noch ein paar weitere Menschen da, die für uns als „kleine Familie“ wichtig sind, also für unsere Tochter, meinen Mann und mich. Ich spulte ein Drehbuch ab, weil ich nicht mehr in der Lage war zu improvisieren und war mir dessen auch erst einmal nicht bewusst. Erst später fiel mir das auf.

Der Plan für den Tag passte größtenteils, fraß Unmengen an Energie, bei meiner Tochter, aber auch bei mir. Zum Ende der Feier hin bekam meine Tochter in dem Hinterzimmer des Lokals einen Meltdown. Meinen eigenen nahenden Meltdown konnte ich bereits erspüren und doch durfte das in der Situation nicht geschehen. Ich musste stark sein, ich musste, ich musste…

Meine Hände schmerzten, weil ich mich die ganze Feier hindurch mit den Fingernägeln abwechselnd links und rechts in sie hineingebohrt hatte. Der Schmerz war gut, ein Freund, der es mir erlaubte, irgendwie zu funktionieren. Das Koffein, was ich in Massen in mich hineinkippte, beruhigte mich ebenfalls ein bisschen.


Später, als wir zu Hause waren, zog ich mich zurück, in den Schmerz, als sich meine Fingernägel in meine Hände bohrten, in den anderen Raum, stimmte, trug Kopfhörer. Funktionierte, immer mit dem Wissen, dass der Meltdown nur einen Atemzug entfernt war. Ich bin müde, nicht schlaftrunken, sondern müde vom Kämpfen gegen einen Schutzmechanismus, den mein Körper einfordert. Nur eine Kleinigkeit und der Meltdown wirft sich wie ein schweres Tuch auf mich.

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