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  • AutorenbildNatalie Lehnert

Klischees und Wahrheiten über Autismus

1. Alle Autisten sind hochbegabt/geistig behindert


Falsch. Autismus ist ein Spektrum. Wir sind unterschiedlich begabt und haben andere Stärken und Schwächen als nicht autistische Menschen. Deshalb werden wir in einigen IQ-Tests niedriger oder höher als nicht autistische Menschen eingestuft werden. Insgesamt verteilt es sich jedoch genauso wie unter NTs.


2. Autisten fühlen nichts und können keine Gefühle wahrnehmen


Falsch. Wir nehmen anders wahr als neurotypische Menschen und filtern die Eindrücke nicht (ausreichend). Dadurch fällt es uns oft schwer, die Eindrücke (wie zum Beispiele eigene Gefühle oder die der anderen) zu erkennen bzw. zuzuordnen, ob Gefühle uns unmittelbar selber betreffen oder andere Personen. Dadurch können wir egozentrisch auf andere Menschen wirken, wenn wir den Schmerz des anderen wahrnehmen und diesen für unseren eigenen halten. Andersherum kann es auch sein, dass wir die Gefühle eines anderen nicht zuordnen können oder falsch erfassen und dann für „gefühlskalt“ gehalten werden.


3. Autisten interessieren sich nicht für Freundschaften


Falsch. Wir haben ebenso Interesse daran, soziale Kontakte herzustellen und Freundschaften aufzubauen. Dennoch sind unsere Energieressourcen begrenzt und oftmals reicht es nicht mehr, um „in eine Freundschaft zu investieren“. Dadurch fallen uns gelegentliche Kontakte

wesentlich einfacher als regelmäßige. Dreht sich ein Kontakt um unser Spezialinteresse, fühlen wir uns sicherer und ziehen Kraft aus dem Kontakt. Dadurch wird es leichter.

Oftmals fehlt auch das Wissen darum, wie man einen Kontakt herstellt bzw. ausbaut. Gerade autistische Kinder, aber auch erwachsene Autisten, brauchen dabei Unterstützung.


4. Autisten sind „gnadenlos“ ehrlich


Korrekt. Viele autistische Erwachsene lernen allerdings irgendwann, in welchen Situationen Ehrlichkeit nicht sinnvoll ist. Dass sie es deshalb nicht immer hinbekommen, liegt allerdings daran, dass wir soziale Regeln nicht intuitiv erfassen und so bei veränderten Situationen nicht wissen, ob wir ehrlich sein sollten oder dies in der Situation unangemessen wäre. Zudem halten wir Ehrlichkeit für sehr wichtig, wobei auch Autisten durchaus lügen lernen können. Diese Entwicklung benötigt wesentlich mehr Zeit als bei nicht autistischen Erwachsenen.


5. Autisten halten sich nicht an Regeln


Falsch. Wir hinterfragen Regeln und halten uns nicht an JEDE Regel. Wenn wir eine Regel nicht verstehen oder sie für falsch halten, hinterfragen wir diese und sorgen damit oftmals für Unmut. Es ist wichtig, uns die Regeln ruhig und sachlich zu erklären oder zu erklären, warum eine Umsetzung dennoch notwendig ist. Dann sind wir auch bereit, zu kooperieren.


6. Autisten hassen es, wenn es laut ist


Falsch. Grundsätzlich haben wir empfindlichere Ohren, jedoch bedeutet dies nicht, dass wir es nur ruhig mögen. Machen wir selber Krach, nehmen wir diesen nicht so sehr wahr. Dadurch können wir ihn leichter aushalten. Zudem mögen viele von uns gerne Musik und hören die, die uns gefällt, auch gerne in höherer Lautstärke. Es gibt auch viele Autisten, die gerne die Konzerte ihrer Lieblingsband besuchen.


7. Autisten „flippen“ schnell aus


Falsch. Oftmals werden sogenannte Meltdowns mit „Trotzanfällen“ bzw. Wut verwechselt. Jedoch entsteht ein Meltdown durch eine große Masse an Reizen, die uns so extrem überwältigt, dass wir diese nicht einmal mehr im Ansatz verarbeiten können. Dann sind wir

überladen und versuchen den Druck, der dabei entsteht, auf irgendeine Weise loszuwerden. Oftmals zeigt sich dies durch einen Meltdown, bei dem es jedoch nicht um ein Ärgernis oder unsere Mitmenschen oder um eine Willensbekundung geht, sondern lediglich um Überforderung und die Reaktion darauf.


8. Autisten halten keinen Blickkontakt.


Korrekt. Viele von uns empfinden Blickkontakt als sehr unangenehm oder können sich dabei nicht konzentrieren. Jedoch gibt es durchaus Autisten, die Blickkontakt halten können oder diesen so gut vortäuschen, dass dem Gegenüber dies nicht auffällt.


9. Autismus ist eine „Modediagnose“


Falsch. Autismus wurde früher häufig nicht erkannt und es bestand nur sehr wenig Wissen in dem Bereich. Dies hat sich etwas gebessert, wodurch auch mehr Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die früher keine Diagnose hätten erhalten können, mittlerweile als autistisch erkannt und diagnostiziert werden können. Dennoch wird nach wie vor ein größerer Teil Autisten nicht diagnostiziert, weil sie zum Beispiel „zu gut klarkommen“ oder fälschlicherweise andere Diagnosen erhalten.


10. Autisten haben eine Inselbegabung


Falsch. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die man Servants nennt, die eine Inselbegabung haben. Einige wenige davon sind autistisch.

Autisten werden durch ihre Spezialinteressen Experten auf ihrem „Fachgebiet“ und können dabei extrem gute Leistungen bringen. Dies hat allerdings nichts mit einer klassischen Inselbegabung zu tun.


11. Alle Autisten interessieren sich für Mathematik und IT


Falsch. Wir arbeiten in allen möglichen Bereichen und können darin durchaus sehr gut sein. Meine Mutter hätte es früher nicht für möglich gehalten, dass ich mit Kindern oder allgemein

mit Menschen arbeiten könnte. Heute bin ich seit über zwei Jahren erfolgreich als Integrationshelferin beschäftigt und arbeite in der Autismusberatung. Neben mir gibt es noch viele andere Autisten, die mit Kindern oder allgemein mit Menschen arbeiten und diesen Job sehr gut machen.

In der Vergangenheit hatte ich in meinen Jobs immer wieder Schwierigkeiten in Kontakt mit Menschen. Mittlerweile mache ich etwas, was ich sehr gut kann und seitdem ich meine Diagnose offen mitteile, komme ich damit gut klar. Die einen Autisten können gut Mathematik, andere wiederum sind in anderen Fächern wie zum Beispiel Deutsch oder Biologie sehr gut.


12. Du siehst nicht aus wie ein Autist


Falsch. Mir ist kein optisches Merkmal bekannt, an dem man Autismus erkennen könnte (und der aktuellen Forschung auch nicht). Demnach ist dies optisch nicht herzuleiten. Gemeint ist vermutlich, dass das „Klischee“, welches man im Kopf gespeichert hat, nicht auf denjenigen zutrifft. Oftmals wird auch angenommen, dass, wenn man einen Autisten kennt, alle anderen genauso sein müssten. Dies ist falsch, da JEDER MENSCH ein Individuum ist. Auch bei uns ist das nicht anders.


13. Autisten können nicht verbal kommunizieren


Falsch. Es gibt durchaus nicht sprechende (nonverbale) Autisten, jedoch sprechen viele von uns sehr viel und gut. Trotzdem fällt uns oft das geschriebene Wort wesentlich leichter als das gesprochene. Dabei haben wir mehr Zeit zu reagieren und die Reaktionen und Worte des Gegenübers vorab zu analysieren. Wenn wir sozial interagieren, müssen wir auf extrem viele Dinge achten, die für andere selbstverständlich ist und automatisch „ablaufen“. Das kostet nicht nur Kraft, sondern auch Zeit.


14. Autisten sind „stur“


Falsch. Das wird uns sehr oft nachgesagt. Tatsächlich wird uns von klein auf ständig unsere Wahrnehmung abgesprochen und wir haben ständig das Gefühl, dass die Art wie wir sind, für andere „falsch“ ist. Dabei möchten wir genauso respektvoll wahrgenommen werden wie andere auch. Zudem kommt dazu, dass wir andere Bedürfnisse haben. Wir möchten nicht „blind“ ein Verhalten übernehmen, sondern hinterfragen und legen Wert darauf, dass wohlwollend darauf reagiert wird. Die „normale Erziehung“ klappt bei uns nicht, weil sie sich darauf stützt, wie ein Entgegenkommen zu einem nicht autistischen Kind funktioniert. Autistische Kinder benötigen teilweise mehr Unterstützung, wo ihnen diese untersagt wird (weil sie das ja schon können müssen).


15. Das liegt an der Erziehung


Jein. Autistische Kinder reagieren „extremer“, wenn die Erziehung sich nicht an ihren Bedürfnissen orientiert. Jedoch ist das normale autistische Verhalten kein Ergebnis einer „falschen“ Erziehung, sondern gehört zu dem autistischen Kind dazu.


16. Autisten haben keinen Humor


Falsch. Unser Humor ist oftmals anders als der nicht autistischer Menschen. Ich zum Beispiel haben einen sehr schwarzen Humor bzw. finde ich auch Wortwitze gut. Der „normale“ Humor ist für mich meistens nichtssagend.


17. Autismus wird durch Impfungen ausgelöst


Falsch. Mittlerweile ist dies widerlegt, jedoch hält sich dieses Klischee hartnäckig und wird vor allen Dingen von Impfgegnern immer noch verwendet.


18. Autisten sind nicht kompetent


Falsch. Kompetenz hat nichts damit zu tun, ob jemand autistisch ist oder nicht. Jeder Mensch hat Fähigkeiten und kann im Umgang damit kompetent sein oder dies lernen. Auch wir haben unsere Stärken und können darin sehr kompetent sein.


19. Autisten wollen lieber neurotypisch sein


Jein. Grundsätzlich ist es uns wichtig, dass wir anerkannt und nicht auf den Autismus reduziert werden. Wenn wir so akzeptiert werden, wie wir sind, können auch wir einen besseren Zugang zu uns finden und uns so annehmen, wie wir sind. Natürlich gibt es auch Autisten, die tatsächlich lieber neurotypisch wären (oftmals mit der Hoffnung verbunden, dadurch „dazuzugehören“ und andere Stärken zu haben).


20. Autisten haben keine Liebesbeziehungen und keine Kinder


Falsch. Viele von uns gehen Partnerschaften ein und gründen Familien. Autismus ist auch kein Grund, auf Kinder zu verzichten. Wenn jemand überfordert mit sich selber ist, ist DIES ein Grund darauf zu verzichten, jedoch kann dies ebenfalls auf neurotypische Menschen zutreffen.


21. Du kannst dich doch auch einfach normal verhalten


Falsch. Weil der Begriff „normal“ für jeden Menschen etwas anderes aussagt. Autistisches Stimming zum Beispiel ist für mich „normal“, für viele neurotypische Menschen wirkt es unnatürlich und sie verstehen den Grund für das Verhalten nicht.

Wenn wir uns „neurotypisch verhalten“ müssen wir sehr viel kompensieren, gegen unsere autistischen Bedürfnisse und unsere autistische Wahrnehmung halten und spielen „eine Rolle“ – wie in einem Theaterstück. Kein neurotypischer Mensch kann ewig Theater spielen – wir auch nicht.


22. Autisten können keinen Sex haben


Falsch. Soweit mir bekannt ist, ist Autismus dafür nicht ausschlaggebend. Wir erfüllen ebenso alle Voraussetzungen dafür, um Geschlechtsverkehr auszuüben. Und wenn man bedenkt, wie viele Eltern nach der Diagnosestellung ihrer autistischen Kinder plötzlich feststellen, selber auch autistisch zu sein, wie wäre das möglich?


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