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  • AutorenbildNatalie Lehnert

Autistische Stärken

Jeder Mensch ist zugleich mit Schwächen und Stärken ausgestattet. Dies ist auch bei uns Autisten nicht anders, allerdings wird es uns oft negativ ausgelegt.

Die Art, wie wir etwas betrachten, beeinflusst auch die Art, wie wir damit umgehen. Sehen wir ein Defizit, wollen wir es ausgleichen oder beheben.


So wird autistisches Stimming (selbststimulierendes Verhalten durch stereotype Handlungen) zu einem Verhalten, das unerwünscht ist, weil es gesellschaftlich nicht als sinnhaft erkannt und akzeptiert wird. Dabei ist Stimming an sich kein rein autistisches Verhalten. Bei Nervosität bzw. Zeitdruck oder Ungeduld neigen viele nicht autistische Menschen dazu, unruhig „hin- und herzugehen“ oder die Beine übereinander zu schlagen und mit dem Fuß zu schaukeln. Als vertrautes Verhalten wird es in solchen Situationen akzeptiert bzw. ignoriert. Aber warum betreiben wir Stimming?


Stimming setzt nicht voraus, dass wir Einfluss darauf nehmen müssen, wie wir uns bewegen und was wir tun. Unsere Körper reagieren selbstständig und unterstützten uns durch Stimming dabei, Druck abzubauen und uns wieder zu beruhigen.


Autistisches Stimming wird von uns Autisten deutlich häufiger genutzt und in vielen verschiedenen Situationen, in denen wir Druck abbauen müssen. Fakt ist nämlich, dass es für uns wesentlich mehr Stressfaktoren gibt als bei nicht autistischen Menschen (NTs). So wird Stimming zum Beispiel auch bei starken Gefühlen eingesetzt. Zeigen wir diese dadurch, ist dies eine sehr individuelle Art, seine Emotionen nach außen hin zu teilen – wenn wir uns erlauben, dies als Stärke auszulegen.


Ehrlichkeit wird als „hohes Gut“ gelobt und dann kurioserweise immer wieder durch „sozial angemessene“ Unehrlichkeit ersetzt. Autisten sind ehrlich und loyal und dass dies sozial nicht

immer angemessen erscheint, kann uns schwerlich als „Schwäche“ ausgelegt werden. Lediglich unsere Art zu kommunizieren ist anders. Wir bevorzugen die Sachebene und legen keinen Wert darauf, unsere Mitmenschen durch unsere Ehrlichkeit zu kränken. Dies geschieht dadurch, dass auch bei uns angenommen wird, dass wir auf der gleichen Ebene wie NTs kommunizieren. Bei Menschen, die einer anderen Kultur entstammen, würden wir dies berücksichtigen und darüber nachdenken, ob es ein klassisches Missverständnis sein könnte. Auch wenn wir Autisten den gleichen kulturellen Hintergrund wie NTs haben, ist unser Sprachverständnis jedoch ein anderes.


Zudem sind viele von uns Autisten sehr reflektiert, weil unsere Reflektionsfähigkeit notwendig ist, um nicht autistische Menschen zumindest im Ansatz zu verstehen. Wir beobachten genau, ziehen unsere Schlüsse, müssen zwischenmenschliche Interaktion nicht autistischer Menschen genau analysieren. Das macht uns nicht zu Robotern, wie es gerne dargestellt wird, sondern zu kulturfremden Nachbarn. Während wir unser Leben lang damit beschäftigt sind, nicht autistische Menschen weitestgehend verstehen zu lernen, sehen nicht autistische Menschen diese Notwendigkeit meistens nicht. Dadurch kommen viele von uns später einigermaßen in der Interaktionen zu nicht autistischen Menschen klar, wodurch viele nicht autistische Menschen nach wie vor im Nachteil sind, weil ihnen schlicht und ergreifend die Übung fehlt.


Wir Autisten sind gerechtigkeitsliebend, auch dadurch, dass uns diese oftmals von Kindheit an verwehrt wird. Meistens liegt es schlicht und ergreifend daran, dass die autistische Art der Wahrnehmung und Kommunikation falsch ausgelegt wird und mitunter Sanktionen unterliegt. Viele nicht autistische Menschen werden in bestem Wissen und Gewissen dabei handeln, weil sie damit überfordert sind, unsere Sichtweise einzunehmen und sich in uns hinein zu versetzen. Das ist sehr schade.

Viele Autisten setzen sich für Gerechtigkeit ein, auch bereits Kinder – und werden dann mitunter missverstanden. Bereits unsere andere Art zu kommunizieren (weniger Mimik und Gestik, klare Sprache, etc.) können zu falschen Schlussfolgerungen bei nicht autistischen Menschen führen. Hier ist es wichtig, Gründe für das Verhalten genau zu hinterfragen.


Empathielosigkeit ist ein Vorurteil, welches sich in Bezug auf uns weiterhin hartnäckig hält. Tatsächlich besitzen wir sehr viel davon.

Wenn wir an Empathie denken, fassen wir zwei Bereiche zusammen. Tatsächlich ist das Mitgefühl, das wir nach außen hin zeigen, nicht alleiniges Kennzeichen der Empathie. Um dieses Mitgefühl zu transportieren, müssen wir die Situation erst einmal richtig erkennen. Ein nicht autistischer Mensch kommuniziert zu einem großen Teil nonverbal, also ohne Sprache. Anhand der Mimik, der Tonlage, der Reaktion erkennen nicht autistische Menschen bei Menschen, die ähnlich wahrnehmen und kommunizieren schnell, wie es ihnen in etwa geht. Sie können es zuordnen und – sofern genug Feingefühl besteht – darauf passend reagieren. Autistische Menschen senden andere Signale aus als NTs (neurotypische Menschen), die für diese zu subtil sind und dadurch mitunter nicht wahrgenommen werden. So geschieht es nicht selten, dass ein Hilfebedürfnis eines autistischen Menschen nicht erkannt wird oder sie dieses nicht erkennen können, da sie auf einer anderen Ebene kommunizieren.


Die autistische Detailgenauigkeit macht uns oft blind für das große Ganze. Andererseits nehmen NTs auch weniger detailgetreu das große Ganze wahr. Genau genommen ist es lediglich ein anderer Blick auf die Welt, die – wenn man sich zusammen tut – eine wunderbare Erweiterung der Weltsicht für beide Parteien bedeutet. So kann man voneinander profitieren, wenn man es nicht einfach als Schwäche abtut. Durch die Detailgenauigkeit werden wir zu Perfektionisten, die sich nicht damit zufrieden geben, dass es Regeln und Grenzen gibt. Wir hinterfragen sie, was oft sehr anstrengend für NTs ist. Dennoch wurden viele Erfahrungen dadurch gemacht, dass man Grenzen in Frage gestellt und sich an sie herangewagt hat. Im Grunde genommen ist dies eine wundervolle Eigenschaft, die neue Wege eröffnet – auch wenn sie in manchen Situationen an die Substanz gehen kann.


Wenn wir über unsere Spezialinteressen reden, werden wir oft als anstrengend wahrgenommen. Gerade wenn wir ohne Punkt und Komma ignorieren, dass unser Gegenüber seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken möchte, sollte sich dies immer wieder klargemacht werden. Dennoch müssen natürlich auch wir lernen, das Gesprächsthema zu wechseln und unsere Gesprächspartner nicht „in die Flucht zu schlagen“. Dazu ist es wichtig, dass wir die mehr oder weniger subtilen Anzeichen kennen und es ist ebenfalls hilfreich, wenn unser Gegenüber dies klar verbal kommuniziert.

Spezialinteressen werden bis ins kleinste Detail erlernt, gelesen, gesammelt, durchdacht. Durch mein Spezialinteresse (Psychologie) komme ich sehr gut in meinem Job klar und kann zwischen autistischen Kindern und neurotypischen Erwachsenen oder Kindern vermitteln. Wiederum andere Autisten nutzen ihr Spezialinteresse und kommen damit in höhere Positionen, weil sie schlicht und ergreifend Fachmenschen (mitunter ohne, dass eine entsprechende Ausbildung dahinter steht) auf ihrem Gebiet sind.


Unsere Wahrnehmung, die zugegebenermaßen oft sehr anstrengend ist, kann genauso gut eine Stärke für uns sein. Einige Autisten riechen schon, bevor ein nicht autistischer

Mensch dies kann, wenn Nahrung schlecht ist oder sie hören Geräusche, noch bevor andere dies tun. Auch wenn wir oft an unsere Grenzen kommen, liegt dies vor allen Dingen daran, dass die Welt eher auf die Bedürfnisse neurotypischer Menschen ausgerichtet ist. Ob es in einem Supermarkt ist, wo im Hintergrund permanent Musik dudelt, Scanner piepen, Menschen kommunizieren und Waren „verrückt“ werden oder im Straßenverkehr mit vielen unterschiedlichen Lichtsignalen (Ampeln, Blinker, Straßenlaternen, Warnschilder, etc.).


Zudem sind wir sehr loyal, auch wenn unser Kontaktbedürfnis nicht dem neurotypischer Menschen entspricht. Wir freuen uns immer, die Menschen, die uns am Herzen liegen, zu sehen, haben aber oft nicht die Ressourcen für regelmäßige Treffen. Für uns bedeutet Freundschaft nicht, dass man sich ständig kontaktieren muss. Haben wir „einen besonderen Draht“ zu einem Menschen, lässt das nicht nach, nur weil man sich lediglich sporadisch trifft.


Natürlich sind dies nur einige Stärken autistischer Menschen. Zudem bleibt zu erwähnen, dass jeder autistische Mensch – wie jeder nicht autistische Mensch auch – individuell „anders“ ist und unterschiedliche Stärken in sich vereint.

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